Die Radfahrerin: Annie Londonderry - Eine Frau. Ein Fahrrad. Einmal um die Welt. Roman (German Edition) by Susanna Leonard

Die Radfahrerin: Annie Londonderry - Eine Frau. Ein Fahrrad. Einmal um die Welt. Roman (German Edition) by Susanna Leonard

Autor:Susanna Leonard [Leonard, Susanna]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Bastei Entertainment
veröffentlicht: 2023-03-30T22:00:00+00:00


Story vom Strauchdieb

Eine Scheune in der Gegend von Pittsburgh, 27. August 1894

Der Fluss ist nicht tief, ich kann bis auf den Grund sehen. Irgendein Nebenarm des Ohio (den Namen verrät mir mein Radführer nicht). Die Mündung in den Ohio kann nur wenige hundert Schritte entfernt liegen, ich höre nämlich das Stampfen eines Flussdampfers. Ich schau’ mich um, nach allen Seiten, und das mindestens dreimal, denn ich bin splitternackt.

Mit den Zehenspitzen taste ich mich zum Ufer voran, bieg’ das Schilf zur Seite, werfe meine zusammengeknüllten Kleider ins Gras, steig’ in den Fluss. Gütiger Himmel, was für eine Wohltat! Noch jetzt, drei Tage später, während ich vor dieser alten Scheune sitze und schreibe, spüre ich die Erfrischung auf meiner erhitzten Haut.

Ich lass mich sinken, tauch’ ein bis zur Hüfte, bis zu den Brüsten, bis zum Hals. Herrlich! Prickelnde Kühle dringt in meine schmerzenden Kniegelenke, lindert das Brennen auf meinem wunden Hintern.

Das Wasser um mich herum färbt sich grau. Ich tauche unter, wasche mein heißes Gesicht, meine Füße, meinen Hintern, mein Geschlecht. Zum Schluss rubbele ich mir das Haar. Beim Auftauchen tragen die Wellen dunkle Schmutzschlieren davon. Das wundert mich nicht: Der Aschestaub setzt sich vor allem in den Haaren fest, das habe ich schon an den ersten Tagen gemerkt.

Und natürlich in meinen Kleidern. Obwohl die Strömung nicht besonders stark ist, muss ich ein paar Meter flussaufwärts schwimmen, um wieder dorthin zu gelangen, wo ich sie abgelegt habe. Ich ziehe sie vom Ufer, tauche sie ins Wasser – wringe und tauche und wringe und spüle und wringe wieder; Stück für Stück: die Bluse, den Rock, die Hose, die Wäsche, die Strümpfe, und jedes Mal breiten sich graue Wolken im klaren Wasser aus.

Anschließend werfe ich die leidlich gesäuberten Kleider so weit wie möglich in die Uferwiese hinein. Eine Weile lass ich mich noch treiben, tauche zur Flussmitte hin, schwimme, lass mich von den der sanften Strömung auf dem Rücken wiegen, blinzle in die Abendsonne und spüre, wie mir die Kühle in die Glieder, in die Knochen sickert, wie sie die Erschöpfung aus meinen Muskeln treibt.

Ein Schwanenpaar schwimmt vorüber und beäugt mich streng, als ich im Schilf aus dem Fluss steige. Ich klaube meine Kleider aus dem Gras zusammen, drücke das nasse Knäuel gegen Brüste und Geschlecht und laufe ein Stück flussabwärts zu dem alten Hausboot, in das ich mein Fahrrad gestellt habe. Oben auf der Bahntrasse stampft eine Lokomotive heran, schon sehe ich ihre Rauchsäule über den Baumwipfeln aufsteigen. So schnell ich kann springe ich durchs Gras, niemand soll mich nackt sehen, und wenn die Lok einen Personenzug zieht, könnte das passieren. Das Stampfen wird lauter, zu spät: Ich ducke mich ins Gras, bis die Eisenbahn vorübergerattert ist.

Danach ab ins Hausboot, noch einmal die Kleider auswringen, sie glatt ziehen und in die Weiden am Ufer hängen. Ein wenig Abendsonne werden die feuchten Sachen ja noch abkriegen. Ich wickle mich in die Decke, die mir Susan in Manhattan besorgt hat, lege mich ins Heu, das ich mitten im Hausboot aufgeschichtet habe, und weil ich todmüde bin von der stundenlangen Strampelei, schlafe ich sofort ein.



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